Die Hose des Fischhändlers

Ein Essay nach Fotografien aus Fes/Marokko

Woher kommen diese Bilder?

Hermann Ühlein

Text

Franz Schumacher

Fotografie

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Immer wieder. Diese Stimmungen, das Licht, die Berge, die Wüste. Schutt und Dreck sind hier um alte Mauern und gestreifte Zelte. Ganze Bezirke mit dem schmutzigen blau-weißen Stoff, Kuben aus Stoff, nicht das First-Zelt der Pfadfinder und Rucksackcamper. Wie riesige Strandkörbe bilden diese Zelte eine Wand, eine Straße, halbhoch umfriedet von einer vor sich hin gammelnden Mauer, die mit ihren Stufen den Bewohnern eine halbwegs brauchbare Rückenlehne bietet oder einfach einen Sitz im Freien. Beduinengewand mit Wanderschuhen und zwei junge Männer in Jeans und Baumwollhemd. Westlich gekleidet und doch halb in der Armut – oder ganz? Der Rand der Zeltstraße ist eine dreckige Böschung. Wie das Grundstück, auf dem soeben ein Haus abgerissen wurde. Der Schutt ist schon komplett entfernt. Irgendwie sieht die Fläche sauber und aufgeräumt aus – und ist doch eine Erdwunde, ein Stück Erde, das seit Jahrzehnten kein Sonnenlicht mehr sah, überbaut, überwohnt, überlebt. Eine unbeholfene Brache, vielleicht auch eine geräumte Müllhalde, eine Halde jedenfalls, noch unklar, was daraus werden wird. Warum also dieses Land? Wo es diese Halden-Orte überall gibt, das Braun-Graue der verbrauchten Erde, die nicht mehr fruchtbar werden will.

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Dem Himmel so nah, dem Lehm so verbunden, gehst du aufrecht und lässig auf dem Flachdach. Vielleicht rufst du dem Bruder, dem Nachbarn, Hey Mann, lass sein, lass das Gewühle, komm mit ins Café. Wer soll hier noch wohnen? Wo ist die Pracht dieses verkanteten Viertels? Aber du gehst aufrecht wie ein Hans-guck-in-die-Luft. Die Stadt in der Ferne ist eine Täuschung, denn du bist schon Teil dieser Stadt, Vordergrund und Hintergrund, dazwischen alte Mauern, nicht zerstört, aber verrottet. Du gehst einfach, verlässt die Szenerie, das bisschen Himmel wird dich leiten und der Blick in die Ferne. Bruder, lass das Gewühle, kommt mit. Und nimm die Jungs mit, die kleinen und die größeren.

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Unfassbar, wie sie dich anlächeln aus einem alten Innenhof, früher vielleicht ein prächtiger Patio, noch schimmern die Bodenkacheln unter dem Dreck hervor. Einer der Jungs, der Große, hat einen Ball unter dem linken Arm. Gleich geht es los. Untergrund egal, Schuhe egal, elf Jungs sind locker zwei Mannschaften. Das Spiel ist Gegenwart, das Spiel ist der Sinn des Lebens. Was sind das für Höfe? Von welchen Häusern oder Bauten? Abgerissen, aber warum? Baufällig? Es ist ein Hof, der sich nicht erahnen lässt hinter Mauern, die als hohe glatte Wände Gassen freigeben. Wann war hier der Reichtum, um das alles zu errichten, wann versiegte er?

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Die Fassaden kaum anders als die Hinterhöfe, brüchig, abgesprungen, blass, voller Risse und Schrunden. Vom Leben künden ein paar Wäschestücke auf einer Dachterrasse, vielleicht zehn Meter über der Gasse. Wahrscheinlich sind sie in der Hitze hier in ein paar Minuten trocken und hängen noch ein paar Tage.

Du hast Glück, du bist im Schatten, der Eimer in der rechten Armbeuge ist zu groß für dich, und der rote Plastikbottich, den du wie einen Riesenhut auf dem Kopf trägst, er macht dich und alles hier unwirklich. Kannst du ihn gleichzeitig mit dem schweren Eimer nur auf diese Weise transportieren? Was hast du im Eimer? Wäsche vielleicht zum Aufhängen oder kommst du vom Färben? Oder vom Schlachten? Das war mein erster Gedanke. Dass du irgendwas Blutiges im Eimer hast, von irgendeinem Schlachten. Ich weiß nicht, Wäsche wäre irgendwie unschuldig, du bist doch noch ein Kind, oder? Im Arbeitskittel schleppst du den Eimer. Du wirst spüren, ob hinter den fensterlosen Mauern Leute wohnen. Kleine Schnörkelgitter in den Wänden verraten die Luken nach Innen. Alles gegen die Sonne und alles gegen die Hitze. Die Enge der Gassen und die Höhe der Wände halten die Hitze draußen, so gut es geht. Die Kanten und Ecken und die Schattenlinien bringen eine Klarheit, die so unwirklich ist wie du unter diesem roten Plastikbottich. Aber vielleicht machst du dir einen Spaß und kicherst dir eins. Ich kann dein Gesicht nicht erkennen. Wie alt bist du?

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Ich warte auf dich. Von hier aus kann ich die Gasse nicht sehen, du weißt, das Fenster ist oben, fast über den Dächern der Stadt. Die Abendsonne lässt das Eisengitter schmelzen. Sie fließt über das Fensterbrett, die kleinsten Dinge werfen lange Schatten. Ein paar Münzen, ein leeres Schneckenhaus, verwelkte Blätter. Ich hebe diese unnützen Dinge auf, lasse sie einfach hier liegen. Vielleicht werden die Blätter mal weggeweht. Ich glaube, das Schneckenhaus ist sogar von dir. Du hast es gefunden. Die Münzen, gut, keine Ahnung. Ich könnte sie nehmen und damit bezahlen, aber, je länger sie hier liegen, desto dinglicher werden sie, fast wie antike Münzen, die nicht mehr als Zahlungsmittel gelten. Sie liegen hier und gehören zur Fensterbank, zu meinem abendlichen Blick in die untergehende Sonne. Die Abendsonne ist mild und weich, sie streichelt die Dinge, sie lässt sie in Ruhe. Nicht wie die Morgensonne, die die Dinge hart angeht und ausleuchtet und kantig macht. Die Abendsonne beleuchtet einfach nur und lässt die Dinge sein. Ist dir schon mal aufgefallen, dass unser Gitter die ewig vollkommenen Grundformen der Geometrie, der Erdvermessung, des Weltmaßes einfach aneinanderreiht und ineinander schiebt und einfach nur wiederholt? Kreis und Quadrat, so einfach ist Vollkommenheit. Ja, ich komme, ich mach dir auf.

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Du glaubst gar nicht, wie klar und einfach die Dinge manchmal sind. Wie klar der Himmel zum Beispiel von der Erde getrennt ist, wenn vor dir eine glatt getünchte Mauer steht. Eine Mauer, vielleicht fünf Meter hoch, mit einem Tor – und fertig. Glatt getüncht mit klaren parallelen Linien, unten zur Straße und oben zum Himmel, zwei Striche, wie mit dem Lineal gezogen, hier Mauer, hier Straße, hier Mauer, hier Himmel. Versuche diese Linie mal zu finden, wenn du aufs Meer schaust, das gelingt dir nicht. Sonderbar ist nur, dass beides deine Blicke zieht. Blicke springen über Mauern, Blicke verlieren sich im blauen Nichts. Ich kann zwar die Landessprache nicht, aber hier steht „Stopp“, auf dem roten Achteck mit weißem Rand. Stopp – vor dem Muli hier? Das Muli vor der Wand hat Vorfahrt. Weißt du, das ist doch eigenartig: Das Quadrat, der Kreis und jetzt das Oktogon und die Parallele. Flächen, Linien, Ausgewogenheit, Unendlichkeit, auch das Pentagramm auf der Nationalflagge über der Mauer ist eine endlose Linie mit vielen Kehrtwendungen, Überkreuzungen – und hier haben wir die „Fünf“. Die Welt ist Zahl und Fläche, mein Lieber, du kannst es drehen und wenden, wie du willst. Mit Zahl und Linie und Fläche ist alles gesagt. Klar, die Flagge weht im Wind, der Baum, das Knäuel der Elektroleitungen, die Formen des Mulis und seines Reiters, hier hört das Ebenmaß auf, hier wird es unregelmäßig und nicht mehr berechenbar. Hättest du gedacht, dass es Wind gibt bei diesem Himmel? Und der Baum? Er bewegt sich nicht, es ist nur ein laues Lüftchen, aber immerhin, es ist das berühmte göttliche Säuseln, das dem Propheten kündet, was er zu tun hat. Es ist nicht das Getöse der Welt, das die Botschaft überbringt, es ist das Säuseln, das dich weiterbringt, der Windhauch, der dich kühlt und klärt, der dich hören lehrt und dich sehen lässt, auch die unsichtbaren Trennlinien zwischen Himmel und Erde und zwischen Licht und Schatten.

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Wieder im Getümmel. Sechshundert Leute sind mir schon zu viele, sagt jemand, der in einem Vierzigseelendorf wohnt. Menschen machen mich müde, unendlich müde, und das Scheppern und Klappern aus der Küche, ja, das sind Zeichen des Lebens, auch wenn man im Freien die Geräusche von Besteck und Tellern hört, an Sommerabenden. Aber diese lachenden und fröhlichen Menschen in den engen Gassen, wie sie an kleinen Café-Tischchen sitzen und plaudern, ein paar Worte mit dem Kellner wechseln, der aussieht wie einer von ihnen, der sich ein bisschen was dazu verdient oder überhaupt nur durchs Kellnern verdient. Ich kann nicht mehr, was soll das ganze Getue und Gewimmel hier. Und Kinder wollen vom Vater immer und überall auf der Welt auf den Schultern getragen werden, fest gesichert durch den Nacken und durch zwei große Hände, die die Beinchen ganz umschließen. Lass alles vorbeiziehen, der Schweiß läuft mir ins Ohr, auf der Stelle bleibe ich stehen, kaum kann ich die Augen aufhalten und sehe es nicht, das Mädchen mit dem weißen Sommerkleid und den farbigen Blumen. Es wird diese Gasse mit den billigen Caféhaus-Tischen einfach durchlaufen und links und rechts schauen und vielleicht neidisch sein auf die kleine Schwester, die auf den Schultern vom Papa sitzt – oder trotzig stolz, dass es schon groß genug ist, alleine zu gehen. Alles kommt mir so gleichgültig vor: Ob ich rede oder nicht rede, ob ich gehe oder stehen bleibe, ob ich mich freue oder nicht, der Tag kommt, der Tag geht, und auf meinen Schultern sitzt kein stolzes Kind. Dann müsste ich gehen, mich einreihen in den Gang der Leute und Touristen. Kinder wollen nicht einfach nur oben sitzen. Sie wollen, dass man sie beim Gehen trägt. Sie wollen, dass man ihnen die Welt zeigt, getragen und unangreifbar von oben herab. Wer unten ist, muss aufpassen.

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Ich habe gar nicht gewusst, dass du so gerne Basketball spielst, auf dem Plateau über der Stadt. Oder spielt ihr dort Fußball? Wahrscheinlich macht ihr gar nichts auf dem Platz, wie die meisten. Ihr steht beisammen und plaudert euch so durch den Abend, auf einem riesigen Platz den Gassen enthoben. Im Schatten, der Abendwind und dazu dieser Blick in die Berge. Kaum vorzustellen, wie eng die Stadt im Tal ist, hier oben jedenfalls sind Weite und Raum und Ferne.

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Wie sich doch bestimmte Formen ähneln, die Kutte eines Dominikaners vielleicht, sagen wir, die Sommerkluft, zum Verwechseln ähnlich dem Gewand eines Taxifahrers in der Stadt. Da sitzt er im Schatten und wartet auf Kundschaft, das linke Bein über das rechte geschlagen und darauf überkreuz die Arme aufgestützt, in der Linken die Zigarette – und dann diese Mönchskutte, rechts auf Hosentaschenhöhe ein Schlitz zum Hineingreifen, denn darunter trägt der Taxifahrer noch eine weiße Sommerhose. Sogar die Kapuze stimmt. Kein Mensch denkt hier an ein Kleid, das ist einfach ein Männergewand, fertig aus. Das Weiße reflektiert die Sonne, die Hitze wäre sonst nicht zu ertragen, auch das Luftige, das Weite des Stoffes, dennoch, wir würden das wahrscheinlich in der Hitze trotzdem nicht anziehen, würden so wenig Stoff wie möglich auf der Haut tragen, auch im Schatten läuft die Brühe, nur der Schweißtropfen bewegt sich, alles andere ist schon zu viel an Bewegung, an Kraftaufwand. Warten auf Kundschaft am Taxistand, wenigstens im Schatten, und der kleine Pimpf da, der ist immer hier mit seinem Großvater. Jahraus, jahrein trägt der diese Schlappen, der Alte im schäbigen Anzug, hustet vor sich hin und spuckt dauernd aus, hat es am Magen und wird es nicht mehr lange machen, hab ich schon vor fünf Jahren gedacht, da war der kleine Pimpf noch nicht auf der Welt. Wer weiß, woher das Leben kommt. Der Alte lebt immer noch, hockt jeden Tag hier am Taxistand. Das ist ihm Leben genug.

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Leben im engen Schatten, schon als Kind, hinter dem Busbahnhof. Nichts wächst hier. Schon eine kleine Halde reicht aus, um das ganze Gelände zu vermüllen. Und genau hier, mitten im Dreck, hatten wir unseren Flecken Erde, den wir gegen jeden Eindringling verteidigt haben. Kleine Boote haben wir aus dem Müll gebaut, und alte Ölkanister waren unsere Sitze. Das war nicht gerade viel, aber es war eben unser Reich. Ein kleines Meer aus Erde für unsere Boote aus Müll.

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Jetzt sehe ich es: Es ist nur eine einfache Plastikplane, vielleicht ein Müllsack, den er sich umgebunden hat, damit ihm die Schuppen und die Innereien nicht an die Hose spritzen. Es muss früher mehr Fisch gegeben haben, denn der Laden ist groß ausgelegt. Die paar Fischschwänze, die da silbern in der Ecke glitzern, sehen doch ein wenig jämmerlich aus. Wenigstens die beiden Fische, die die Frau gerade kauft, etwas größer, normale Fische, sagen wir Forellengröße. Wer, um Himmels willen, hat den blöden Donald Duck an die Wand gemalt? Neben andere, zum Laden passende Bildmotive, ein Angler und ein Fischverkäufer und rechts daneben vielleicht ein Koch? Aber Donald Duck? Wahrscheinlich fällt das eh niemandem mehr auf. Die Messer sind gewetzt, und den toten Fischen geht es an den Kragen. Vielleicht landen sie auch gleich im heißen Fett. Oder die Hose, die auf einer Leine hoch über dem Kopf des Verkäufers hängt, oder diese Hose fällt einfach herunter auf die Glühbirne, verursacht einen Kurzschluss, der Fischverkäufer kann das Messer nicht mehr sehen, das den Fisch schuppen sollte, und haut sich die Klinge in die Hand. Und das alles im Dunkeln. Ob die Kundin wartet? Oder kreischend aus dem Laden rennt? 

Das weiß keiner!

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Freund, du hast gut lachen in der geschützten Gasse – und dein Kumpel in der Ecke, der hat sogar einen Stuhl im Freien. Das Tor daneben ist wahrscheinlich sogar der Eingang zum Fischladen, denn hier grüßt der Donald Duck auch schon im Außenbereich. Hier hat sich wohl ein Spaßvogel als Maler verewigt oder einer, der den Amikram wirklich gut fand, quasi modern und international, keine Ahnung. Aus unserer Sicht jedenfalls ziemlich auffällig und irgendwie unpassend, dabei noch nicht mal schlecht gemacht. Es ist der Ur-Donald, als Leichtmatrose. Irgendwie seltsam, die Comic-Figur an einer angefressenen Hauswand in der Stadt, auch schon halb angefressen vom Salpeter. Jedenfalls wurden die Gassen irgendwann mit Verbundsteinen neu gepflastert.

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Man soll nicht mit dem Kopf am Fenster schlafen, sagt man bei uns. Warum, ist mir nie klar geworden. Hier ist alles anders, auch das. Vielleicht, weil es hier nicht zieht am Fenster. Seit du weg bist, habe ich das Bett nicht mehr gemacht, aufräumen, Laken glatt ziehen, Falten im Laken sind Spuren, von dir, von mir, von uns. Ich lasse deine Spuren und mische sie mit meinen im Licht des Morgens und im Licht des Abends. Im Grunde sieht man die Spuren nur, wenn sich das Licht in die Falten gräbt. Selbst das Gehupe von der Straße verstärkt nur das Gefühl, dass du nicht mehr da bist. Ich werde das Bett erst wieder machen, wenn du zurück kommst, dann ziehe ich das Laken glatt zum Empfang, ganz glatt.

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Die Stadt ist geprägt von Mauern bis zum Himmel, von Mauern und Außenwänden. Was ist das? Ein Palast, eine Burg, eine Stadtmauer? Lehmig wie sie ist, lässt sie sich kaum unterscheiden vom Erdboden, wäre diese brüchige Kante nicht, sähen wir nicht perspektivisch und räumlich, es wäre eine große, gelb-bräunliche Fläche, und die Farbtupfer, das sind die Gewänder der Frauen und Mädchen, türkis, grün, orange, dottergelb. Die Wand ist übersät mit Löchern, nicht immer in Reihe, so als wären hier unzählige Holzbalken eingelassen, das ergibt jedoch keinen Sinn, vielleicht hatte diese Wand eine Verkleidung, die mit eingelassenen Hölzern befestigt war? Wären die Löcher nicht quadratisch, würde man an Einschusslöcher denken, dagegen jedoch spräche dann die Anordnung in Reih und Glied. Die Leute, die hier wohnen, jedenfalls, scheint das herzlich wenig zu interessieren. Hier geht einfach nur ihr täglicher Weg vorbei. Ich glaube, es ist eine Wehranlage, eine Stadtmauer, es scheint einen Umgang mit Zinnen gegeben zu haben, dort, wo der Himmel zu sehen ist. Wenigstens ein kleines Stück davon gibt die Mauer frei.

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Anders in den Gassen innerhalb. Enge als Sonnenschutz, hohe Wände und Mauern, glatt und weder Fenster noch Öffnungen, einfache, dünn verputzte Wände. Eine Wand wirft Schatten auf die andere und umgekehrt, perfektes System. Nur wenn die Sonne senkrecht über der Gasse steht, sind die Wände als Schattenwerfer für einige Minuten nutzlos, dann werfen nur die Menschen lange Schatten, treiben sie vor sich her oder lassen sie hinter sich zurück. Bis die Sonne weiterwandert und alles Leben wieder in Schatten hüllt. Das Leben bleibt dann ohne Kontur, ohne Unterscheidung, ohne Bewegung, ohne Richtung. Man weiß nicht so recht, wie das Gesicht der Frau zu lesen ist. Leicht nach vorne gebeugt, blickt sie nach unten. Sie scheint das Haar in einem Dutt gebunden zu haben. Die Form ihres Kopftuches lässt das vermuten. In der Linken einen Besenstiel, hält sie in der Rechten den Zipfel eines Sacks, den sie zusammen mit ihrem Mann trägt, dieser hält mit seiner Linken ebenfalls den Zipfel des weißen Beutels. Ein Ehepaar? Die Sonne scheint dem Paar auf Hinterkopf und Rücken. Sie gehen in ihren Schatten. Wahrscheinlich tragen sie die Einkäufe nach Hause. Und dann fängt wohl für die Frau die Arbeit erst an.

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Ihr Burschen da, hey, bevor ihr in irgendein Café mit roten Vorhängen geht, geht ihr lieber ins Kino, wo amerikanische B-Pictures laufen, die „Mortal Kombat“ heißen, oder asiatische Billigstreifen mit elastischen Kampfmaschinen, die vom Nasi-Goreng-Asphalt emporschnellen. Solche Filme heißen „Streetfighters“. Da fallen euch die Augen heraus, und die Kinnlade klappt herunter, oder ihr steht einfach nur vor den Plakaten und guckt, skeptisch vielleicht, denn die amerikanische, die asiatische Welt sind so fremd wie das Leben auf dem Mond. „PioneerXXL“ steht auf deinem Shirt, in Lettern, größer als du selbst. Was macht ihr, wenn ihr nicht vor dem Kino steht? Kommt ihr ein, zwei Mal die Woche vorbei, um die Plakate zu sehen, oder geht ihr wirklich mal in einen Film? Ich habe als Junge lange gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass die Szenen in den Schaukästen gar nicht aus dem Film stammen, sondern nur für die Schaukästen fotografiert wurden. Seid ihr eigentlich befreundet? Oder steht ihr hier zufällig zusammen? Und zu wem gehört der Kleine da? Ob er weiß, was „Mortal Kombat“ heißt? Jedenfalls hat er das Shirt an mit „PioneerXXL“.

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Wie hingestellt, oder gehst du? Wie ein Bannstrahl trifft dich das Leben oder das Schicksal oder die göttliche Straße nach oben, der Fluss der Energie. Mag sein, dass alles auch nur Zufall ist, dass du jetzt hier und genau hier an diesem Fleck Erde stehst. Es ist kein Blitz, der dich trifft, es ist ein Fluss aus Licht und Wasser, ein Kanal von oben zu dir, ein Kanal von dir nach oben. Keine gerade Bahn, aber er trifft auf dich und er geht von dir aus, er nährt dich und er öffnet dich. Da sind auch andere Bahnen,da sind auch andere Kanäle, aber sie laufen ins Leere, noch.

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Ins Leere laufen aus der Enge, Gedränge am Buseinstieg, die Tür ist geöffnet, der Bus scheint noch ganz leer zu sein, der erste Wartende steigt ein, dicht gedrängt stehen die anderen in einem gefüllten Halbrund, dicht gedrängt, aber noch herrscht kein Geschiebe. Nicht in der Schlange zwar, aber trotzdem scheint das Einsteigen diszipliniert vor sich zu gehen. Eine Frau, ganz hinten, ohne Kopftuch, sie lächelt, gelassen und ruhig abwartend. Ich sehe sie nur im Profil, sie hat helle Haut, ist gepflegt, ein wenig wirkt sie wie eine Kindergärtnerin oder eine Lehrerin, die das geordnete Einsteigen der Kinder im Blick hat, von hinten auf die Kinder schauend, weiß sie, dass sich alle ruhig verhalten werden.

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Man scheint doch auch in diesem Winkel der Stadt mit dem einen oder anderen Besucher zu rechnen, der die Landessprache nicht beherrscht, hier, wo es die kleinen Läden gibt mit Klamotten, Pullis, Kleidern auf Stangen gehängt, die in zwei Stufen bis fünf Meter hoch gehen. Und das alles in einem einfachen Ausbau, mit Zeltstoff und Markisen verhängt. Aber wer soll das hier kaufen, wer kommt hier vorbei und wer benutzt diese öffentliche Toilette, auf deren Schild unter dem einheimischen Wort noch „W.C.“ steht? Vielleicht gibt es ja doch Besucher, die sich in diese Seitenstraße verirren oder wagen? Die auf der Suche sind nach etwas Typischem, aber ist ein blau-weiß geringelter Pulli typisch für hier? Sind Bügelfalten auf den Ärmeln eines traditionellen Männergewandes typisch für hier? 

Wer weiß das schon?

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Deine Augen, Kind, sind schon so müde! So als wärst du es leid, immer wieder diese Fremden hier zu sehen. Du bist nicht mehr neugierig auf sie. Diese Gassen sind wie Flure in großen Stadtwohnungen, man tritt in Privatsphären ein mitten auf der Straße. Ist es das, was du mir sagst? Du bittest mich nicht herein, aber du sagst auch nicht: Bleib draußen! Müde schaust du mich an, desillusioniert, schon jetzt. Wirst du bleiben, willst du von hier fort?

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Eigenartig, rote Vorhänge, in der Mitte eine längliche Öffnung, verbergen etwas Geheimnisvolleres als andere Vorhänge. Keinen Mief jedenfalls, sondern Lebenslust, Feiern mit Schweißperlen auf der Stirn vom Singen zum Akkordeon, Kerzenlicht, Wein. Rote Vorhänge im Schlafzimmer wirken nicht beruhigend. Rote Vorhänge in Bars und Cafés aber schon. Was meinst du? Soll ich mal den Schuhputzer auf seinem Bänkchen fragen, ob er dort seinen Tee trinkt? Ob das Café in Ordnung ist oder so lá lá? Vielleicht sollten wir mal hineingehen, wenn es so lá lá ist. Solche Cafés machen aber erst später auf, da hast du Recht, es ist noch zu früh am Tag, und das Café ist noch geschlossen. Aber womöglich bleiben die Vorhänge auch geschlossen, wenn das Café geöffnet hat. Das Café ist ein Farbklecks in der Gasse, die ist grau, ocker, schmutzig. Und da hockt der Schuhputzer mit seinem Kumpel. Kaum vorstellbar, dass hier Kundschaft vorbei kommt, aber er wird es wissen. Vielleicht sind seine Kunden auch die Besucher des Cafés?

Der Fotograf schreibt mit Licht – Worte machen Bilder : Ein Nachwort

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Genau genommen, sind alle in diesem Buch enthaltenen Texte Nach-Worte, denn sie sind im Anschluss an die Fotografien von Franz Schumacher entstanden. Dennoch steht am Anfang des Buches kein Bild, sondern eine Frage, die Frage nach der Herkunft der Bilder. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte? So pauschal dürfte das nicht stimmen. Besser wäre: Ein gutes Bild sagt mehr als tausend schlechte Worte. Im Umkehrschluss gilt natürlich auch: Ein gutes Wort sagt mehr als tausend schlechte Bilder. Wie auch immer: Bilder lassen uns nach Worten suchen, und Worte lassen in uns Bilder entstehen. Vielleicht ist das Bild, das ein Fotograf macht, zuvor in ihm entstanden? Durch ein Wort, durch einen Text? Durch ein Vor-Bild? Die Bilder, die Franz Schumacher in Marokko gemacht hat, muss er gesehen oder geahnt haben, und zwar vor dem Drücken des Auslösers. Meine Worte kreisen über seinen Bildern wie Greifvögel über der Wiese. Vielleicht hat der Schreibende das Wort, welches er zu Papier bringt, zuvor imaginiert, sich eingebildet? Gesehene Bilder werden zu Texten. Diese erzeugen beim Lesen wiederum Bilder – jeweils eigene, andere, ähnliche, neue? Die Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen Lesen und Sehen, das ewige Rätsel der gegenseitigen Erzeugung von Bild und Wort sind das Thema dieses Buches. Wer es zur Hand nimmt, kann entscheiden, ob er sieht oder liest oder ob er liest und sieht.

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Hermann Ühlein

Dr. Hermann Ühlein

... schreibt: wissenschaftlich (Theologie, Germanistik, Kunstgeschichte), literarisch (Lyrik, Prosa) und essayistisch (zeitgenössische Kunst). Als Kurator entwickelt und realisiert er Konzepte mit Künstlerinnen und Künstlern, er ist Verfasser zahlreicher Eröffnungsreden und Katalogbeiträge sowie Herausgeber der EDITION TEXTURA ARTIS

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Franz Schumacher

...fotografiert: auf Reisen nach Asien, Afrika und Europa. Mit derselben Leidenschaft fotografiert er seine Heimatregion Ruhrgebiet, vor allem mit Blick auf die Transformation vom Industrie- zum Kulturraum. Immer leitet ihn die Einmaligkeit des Augenblickes, er ist fasziniert von Orten, von Szenen und wie beiläufig gelingen ihm unverfälschte Porträts.

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Impressum

Copyright:

© 2014 Hermann Ühlein / Edition Textura Artis (Text).

Veränderungen, auch minimale, nur mit Zustimmung des Autors.

© 2014 Franz Schumacher (Fotografien).